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Gebet und Nächstenliebe

 

Die Fastenzeit lädt uns ein, die Dimensionen des Gebets und der Nächstenliebe geistlich und konkret zu leben. Einige Passagen zu diesen beiden Themen aus dem Buch Das ganze Haus wurde vom Duft des Öls erfüllt (Vgl. pp. 55-63) können uns bei unseren Überlegungen helfen.

 

Zunächst einmal geht es um das Gebet.

Das Gebet sollte in unserem Leben nie fehlen.

In der Familie von Nazareth lernte Jesus in der Synagoge seines Dorfes gemäß der jüdischen Tradition beten. Das Gebet war Teil von Jesu Leben und das weckte in seinen Jüngern den Wunsch, ihn nachzuahmen. Daher begnügte er sich nicht damit, das Gebet zu empfehlen, sondern lehrte auch, wie man betet.

Das „Vaterunser“, das Gebet in seiner reinsten Ausprägung, wurde sowohl zum Inhalt als auch zum Muster des Gebets. Der Herr lehrte uns dann, wie wir beten sollen: ohne Heuchelei, mit Zurückhaltung, ohne viel Worte zu machen. Schließlich erscheint das „Wachen“ im Gebet in den Evangelien als eine offensichtliche Konstante des Herrn vor den bedeutendsten Momenten: So bat der Herr die Jünger in der Nacht vor seinem Leiden, mit Ihm zu wachen und zu beten.

Das Gebet gehört auch an sich zum Stil und Wesen der Kirche. Daher ist es gut, wenn jeder beten lernt und es ohne Unterlass tut. Faktisch drückt sich der Glaube im Gebet aus. Nicht „unser“ Glaube, sondern der Glaube Jesu, mit dem wir vereint sind. Daher müssen wir Christus im Gebet auch immer darum bitten, uns zu erlauben, uns mit ihm zu vereinen, damit wir uns gemeinsam an den Vater wenden und die Gabe des Heiligen Geistes empfangen können, gemäß der großartigen Lehre des heiligen Augustinus, der sagte, dass der Herr Jesus „für uns als unser Priester betet, in uns als unser Haupt betet, und von uns als unser Gott angebetet wird.“ [1]

In Bezug auf die Nächstenliebe schrieb Benedikt XVI. in einem der interessantesten Dokumente seines Pontifikats, dass „der hauptsächliche Antrieb für die wirkliche Entwicklung eines jeden Menschen und der gesamten Menschen die Liebe ist“[2], die Jesus Christus mit seinem irdischen Leben und vor allem mit seinem Tod und seiner Auferstehung bezeugt hat. Die Nächstenliebe ist eine außerordentliche Kraft, welche die Menschen drängt, sich mutig und großherzig auf dem Gebiet der Gerechtigkeit und des Friedens einzusetzen. Hier geht es darum zu begreifen, dass die Wurzel der Nächstenliebe Christus ist: sein Leben, seine Lehre, die Zeichen, die ihn begleiteten, sein Leiden, sein Tod und seine Auferstehung.

Jesus rühmt nie die Nächstenliebe, sondern zeigt konkret, was Nächstenliebe gegenüber Menschen in Not bedeutet: den Armen, den Kranken, der Frau, die des Ehebruchs beschuldigt wird, sogar den Besessenen gegenüber, aber auch dem Gesetzeslehrer gegenüber, der ihn fragt ihn: „Wer ist mein Nächster?“ (Lk 10,29)

. Jesus gibt keine Erklärung, vielmehr erzählt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das sich um einen Mann dreht, der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho in die Hände von Räubern fiel ausgeraubt und misshandelt wurde, bis er schließlich halb tot liegen blieb. Doch nur ein Samariter nahm sich seiner an. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: „Geh, und handle du genauso.“ (Lk 10,37)

Liebe zu Gott wurzelt. Diese Pflicht kommt jedem Gläubigen zu, gleichzeitig aber ist sie auch Aufgabe der gesamten kirchlichen Gemeinschaft: von der Ortsgemeinde bis zur weltweiten Kirche als Ganzes. Als Mitglieder des Ordens vom Heiligen Grab sind wir in zweifacher Hinsicht einbegriffen: Zum einen als Töchter und Söhne der Kirche, zum anderen aber auch, weil wir mit einer edlen pastoralen und karitativen Institution verbunden sind, die ein besonderes Augenmerk auf die Bedürfnisse im Heiligen Land legt. Auf diese Weise leisten wir einen Dienst – das ist unser Engagement – den das Gemeinwohl im Lande Jesu verlangt: für die christlichen Familien, die dort wohnen, für das Zusammenleben der verschiedenen, nicht nur katholischen Gemeinschaften, für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen ohne Unterschied der Religion, und schließlich für die Pilger, die diese Stätten aufsuchen und die Worte und die wichtigsten Momente des Lebens Jesu aufleben lassen möchten.

Zusammen mit dem Gebet, das den Glauben ausdrückt, setzt die Nächstenliebe auch die Gegenwart Christi in der Welt fort, wenn die Nächstenliebe in der Liebe Gottes wurzelt. Dieser Aspekt ist in der christlichen Sicht grundlegend, da die Nächstenliebe sich von einer bestimmten neutralen anthropologischen Auffassung frei macht und wieder zur von Christus aufgestellten theologischen Auffassung findet. Die Nächstenliebe ist eine Aufgabe, die jeden Gläubigen individuell betrifft, aber auch die gesamte kirchliche Familie: von der Ortskirche bis zur Weltkirche als Ganzes. In dem Maß, wie die Christen dann durch die Taufe sakramental mit dem Geheimnis Christi vereint werden, nehmen sie wahr, dass sie Mitglieder einer einzigen Familie sind, der Familie Gottes, die uns aufruft, unsere Zugehörigkeit und unseren Auftrag nie aus den Augen zu verlieren, die darin besteht, Gutes zu tun. Diesem Auftrag wenden wir uns zu, und für ihn schöpfen wir Kraft aus unserer persönlichen Berufung als Verheiratete, Unverheiratete, Geweihte, aber auch als Mitglieder spezifischer Vereinigungen. Die Verpflichtungen, die wir eingegangen sind, sind von großer Bedeutung und stehen im Einklang mit der Apostelgeschichte – „Alle, die glaubten, waren an demselben Ort und hatten alles gemeinsam und teilten jedem so viel zu, wie er nötig hatte“ (Vgl. Apg 2,44-45)  – sowie mit dem Apostel Paulus, der in Zeiten besonderer Katastrophen, Verfolgungen und Hungersnöte die Gemeinden in Antiochia, Griechenland, Galatien und Mazedonien aufforderte, der „Heiligen“ in Jerusalem zu gedenken und Spenden zu sammeln, die er dann als großzügig, ja sogar als “über ihr Vermögen hinausgehend” (2 Kor 8,3-4) beschrieben hat

Die Christen erkennen also in dieser gemeinsamen Verpflichtung zur Nächstenliebe und zum Gebet, dass sie einen der charakteristischen „Wesenszüge“ besitzen, der es ihnen ermöglicht, ihre Spiritualität durch eine „bedeutende Großzügigkeit“ auszuüben, die aus ihren „materiellen Ressourcen“ stammt. [3].

An dieser Stelle sei an die sehr schönen Worte des heiligen Papstes Leo des Großen erinnert, der den Christen in Rom sagte: „Möge die Großzügigkeit gegenüber den Armen und Leidenden zunehmen, damit Gott Danksagung zuteilwird. Und möge es mit Freude geschehen.“[4] Die Freude über das Gute! Die Fastenzeit fordert uns auf, diesen doppelten Weg zu gehen: Gebet und Nächstenliebe.

Fernando Kardinal Filoni

 

(März 2022)

 

 

[1] Aus dem Kommentar zu den Psalmen des heiligen Bischofs Augustinus, Ps 85, 1 ; CCL 39, 1176-1177

[2] Benedikt XVI. Enzyklika Caritas in veritate, Nr. 1; siehe auch die andere Enzyklika Deus caritas est

[3] Siehe dazu Artikel 4 der Satzung

[4] Heiliger Leo der Große, Papst. Discorsi (n.10) sulla Quaresima, 3-5, PL 54, pp. 299-301.