Benedikt XVI: Er sprach mit uns über Gott

Erinnerungen von Kardinal Fernando Filoni

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Benedetto XVI e Cardinale Filoni Reise in die USA, April 2008

Benedikt XVI. war ein Prophet unserer Zeit, ein Meister der Kirche, ein Vater für alle.

Der renommierteste seiner Biographen, Peter Seewald schrieb, dass er für manche „ein Unbequemer ist, der seine Gegner verwirrt. Sobald die Rede auf Ratzinger komme, merkte der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy an, beherrschten Vorurteile, Unaufrichtigkeit und sogar die glatte Desinformation jede Diskussion“. In Wahrheit, so schrieb Seewald, „bestach Joseph Ratzinger durch seine noble Art, seinen hohen Geist, die Redlichkeit der Analyse und die Tiefe und Schönheit seiner Worte. Bei ihm wusste jeder, dass das, was er verkündet, vielleicht unbequem sein mag, aber verlässlich der Lehre des Evangeliums, der Kontinuität mit den Kirchenvätern und den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils entspricht“. (Benedikt XVI. – Ein Leben, Droemer Knaur 2020). Ich teile diese Meinung, auch aufgrund meiner direkten Kenntnis dieses „großen Papstes“, wie ihn sein Nachfolger Franziskus nannte.

Ja, Benedikt XVI. war ein Prophet unserer Zeit. In der Heiligen Schrift ist die Geschichte der Prophetie mit der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk verbunden. Gott liebt, Gott ist eifersüchtig, Gott ruft unaufhörlich zur Umkehr auf. Benedikt XVI. hat diesen Auftrag ein halbes Jahrhundert lang vom 20. bis zum 21. Jahrhundert erfüllt, und zwar in einer Zeit großer Umwälzungen für die Gesellschaft, die von der wissenschaftlichen Forschung, einer fast allmächtigen Technologie und vom Verlust des Heiligen umgekrempelt wurde. Er war Zeuge und Teil eines komplexen Jahrhunderts.

Als Professor und junger Mitarbeiter beim Zweiten Vatikanischen Konzil besaß er voll und ganz den sensus Ecclesiae, der die Grundlage jeder wahren Ekklesiologie ist, und distanzierte sich von denen, die einen Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft wünschten. Er drückte seine Liebe zur Ökonomie der göttlichen Offenbarung aus, indem er sie korrekt deutete, was Taten und Worte einschließt. Im Einklang mit dem biblischen Stil und Diktat stellte Benedikt XVI. die Wahrnehmung der religiösen Aktualität im Verhältnis zum politischen und sozialen Denken klar heraus. Das Evangelium und die hohe patristische Tradition wurden zum ständigen Bezugspunkt, der seine gleichermaßen bedeutende und verständliche Botschaft bereicherte. Er verstand es, sozusagen den Finger der Gegenwart Gottes in der Geschichte aufzuzeigen.

Die göttliche Offenbarung im Gehorsam des Glaubens annehmen, ohne es an Intelligenz und Willen fehlen zu lassen, war für Benedikt XVI. eine Konstante, mit der er den Höhepunkt seiner Rede über Jesus, der Quelle und dem Gipfel der Offenbarung erreichte. Wie kein anderer zeigte er den Reichtum und die Schönheit Christi in seiner großartigen Trilogie Jesus von Nazareth auf, einem Werk, das im Leben der Kirche als sein geistliches Meisterwerk von großer kultureller und theologischer Tiefe erhalten bleiben wird.

Die Rolle und der Wert der Heiligen Tradition, die aus der apostolischen Lehre stammt, lagen ihm wirklich am Herzen. Die Kirche, so lehrte er, schreitet unter dem Beistand des Heiligen Geistes in der Wahrheit voran, und zwar durch die Heilige Schrift und durch das Gedächtnis der Väter, das bewahrt, hervorgehoben und verbreitet wird. Aus diesem Heiligen Depositum leitete Benedikt XVI. den Dienst am lebendigen Lehramt der Kirche ab, das niemals über dem Wort Gottes steht.

Johannes Paul II. wollte ihn an seiner Seite haben und vertraute ihm über viele Jahre die Leitung der Kongregation für die Glaubenslehre an. Dann wurde er als Papst selber zum aufmerksamen Servus servorum Dei in der Kirche und in der Welt. Niemand kann seine ersten bedeutungsvollen Worte vergessen, die er nach seiner Wahl auf den Thron Petri sprach: „Nach einem großen Papst Johannes Paul II. haben die Herren Kardinäle mich gewählt, einen einfachen und bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn. Mich tröstet die Tatsache, dass der Herr auch mit ungenügenden Werkzeugen zu arbeiten und zu wirken weiß. Vor allem vertraue ich mich euren Gebeten an. In der Freude des auferstandenen Herrn.“ (19. April 2005).

Propheten haben eine durchsichtige Demut, deshalb werden sie entweder geliebt oder gehasst. Die Demut von Benedikt XVI. wurde von den Menschen anerkannt und sie liebten ihn zutiefst. Sie schätzten ihn, weil er über Gott und seine Barmherzigkeit sprach und die Menschen an seine Gegenwart erinnerte. Diejenigen, die alle Aspekte seines Lebens sowie seine Worte mit einem voreingenommenen Blick oder mit Hochmut entschlüsselten, haben ihre Seelengröße verloren.

Der 265. Papst der katholischen Kirche und Bischof von Rom hatte also den Auftrag, in einer Weise über Gott zu sprechen, die unserer säkularisierten und gelehrten Welt angemessen ist. Er tat dies sowohl auf hohem Niveau (theologisch gesprochen) als auch in einfacher Art durch Schreiben, durch Predigten und Ansprachen. In seinem Denken bewahrte er immer eine sehr tiefe anthropologische Vision in sich, die nie vom Herrn losgelöst war: „Der Mensch verliert sich selbst, wenn er seinen Schöpfer und Gott vergisst. Wenn er Gott vergisst, weiß er nicht mehr, wie er die Botschaft seiner Natur entziffern soll, er vergisst sein Maß und wird für sich selbst zu einem Rätsel ohne Antwort“ (J. Ratzinger - Benedetto XVI, per Amore , LEV-Cantagalli, 2019). In Bezug auf die Natur sagte er auch: „Wenn wir Gott vergessen, werden die Dinge stumm, sind sie nur noch materiell, sind sie ohne Grund, ohne jede tiefe Bedeutung. Wenn wir zu Gott zurückkehren, beginnen die Dinge zu sprechen“ (ebd.).

Benedikt XVI. war ein Vater. Seine Vaterschaft war schlicht und tat sich fast mit Scham kund, war jedoch sehr direkt. Wer mit ihm zu tun hatte, berichtete von einem freundlichen Mann, der nie rätselhaft, nie doppelzüngig war, der nie zwischen einem populistischen oder medialen Vorgehen zögerte, der nie ein Moralprediger war.

Er liebte die Welt, weil sie krank ist und Gott braucht. Er spürte, dass die Kirche eine große Sendung hat. Er nahm den Beistand eines Gottes wahr, von dem er sagte, dass er vor uns „kniet“, und er betete Sein Geheimnis an.

Er zählt zu den großen Männern unseres Jahrhunderts, und wir alle sind ihm dafür dankbar, denn wir haben das Geschenk seines Zeugnisses von ihm erhalten. Kurze Zeit kam auch ich in in den Genuss seiner Nähe und des Schattens dieser majestätischen Eiche, zunächst in meiner Eigenschaft als Substitut für die Allgemeinen Angelegenheiten des Staatssekretariats und dann als Präfekt der Kongregation für die Evangelisierung der Völker. Dies hat mir ermöglicht, Zeuge des Denkens und Handelns von Benedikt XVI. zu werden. Ich schätzte seine freundliche Achtung auch nach seinem Verzicht auf das Amt des Papstes, und behalte mit tiefer Zuneigung die Erinnerung an verschiedene Begegnungen und an seine kurzen Gedanken, die das Geschenk bestimmter Veröffentlichungen feinfühlig begleiteten: „Meinem lieben Freund.“

Er wird ein Kirchenlehrer werden.

 

Fernando Kardinal Filoni
Großmeister

 

(31. Dezember 2022)