Christus sehen, wenn man die Menschheit betrachtet

Gespräch mit Msgr. Pierbattista Pizzaballa

Print Mail Pdf

Mons. Pierbattista Pizzaballa

Exzellenz, wir möchten gern, dass unsere Mitglieder Sie besser, tiefer und auf geistlicher Ebene kennenlernen. Können Sie uns sagen, wie der heilige Franziskus Ihren pastoralen Dienst inspiriert?

Ich komme aus der Ordensfamilie der Franziskaner, das Vorbild des Heiligen von Assisi steht also im Mittelpunkt meines Lebens im Dienst der Kirche. Der Grund, warum ich dem heiligen Franziskus gefolgt bin, ist eindeutig der, dass er Christus in seinem Menschsein liebte und dass er Christus sah, wenn er die Menschheit betrachtete. Meine Art, heute in Jerusalem Hirte zu sein, besteht also darin, wieder von Christus auszugehen und Ihm in jeder erschaffenen Wirklichkeit zu begegnen. Die Liebe zu Jesus Christus muss alle unsere seelsorgerlichen Entscheidungen erleuchten. Wir sollten nicht in erster Linie von den Bedürfnissen ausgehen, sonst wären wir stets frustriert, vielmehr müssen wir von unserer Beziehung zu Jesus Christus ausgehen, die alle Probleme von innen heraus erhellt. Ein Herz, das von der Freude erfüllt ist, erlöst zu sein, geht die Schwierigkeiten auf andere Art an, in einem offenen Dialog. Und das ist in Jerusalem dringend notwendig, wo es so viele religiöse wie politische Spaltungen und Ängste, so viel Verschlossenheit gibt. Eine offene Kirche ist frei von Angst. Wir haben nichts zu verlieren, und wie der heilige Petrus zu einem Gelähmten an der Schönen Pforte am Eingang des Tempels von Jerusalem sagte: „Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazaräers, geh umher!“


Wir möchten gern noch mehr ins Zentrum Ihrer Spiritualität vordringen: Können Sie Ihren Bischofswahlspruch für die Mitglieder des Ordens erläutern? Warum haben Sie ihn gewählt?

Kurz vor der offiziellen Ankündigung meiner Ernennung las ich folgenden Abschnitt des Wortes Gottes aus dem 12. Kapitel des zweiten Paulus-Briefes an die Korinther, wo es heißt: „Meine Gnade genügt dir.“ Tatsächlich fühle ich mich wie der als Letzter Angekommene und unfähig, denn ich bin Italiener im Heiligen Land, Franziskaner, ohne als Franziskaner hier zu sein, für eine arabische Kirche da, obwohl ich nicht Arabisch spreche. Ich sehe alle Grenzen dieser Wahl, so dass ich mir bewusst bin, dass die Gnade das Einzige ist, worauf ich mich verlassen kann.


Sie haben mir gesagt, dass die Schriften eines französischen Jesuiten deutscher Herkunft namens Christoph Theobald eine Inspirationsquelle für Sie sind. Worin kann zum Beispiel sein Werk „Die Offenbarung“ den Mitgliedern des Ordens vom Heiligen Grab Denkanstösse für ihr geistliches Leben liefern?

Diese westliche Gesellschaft, in der sich alles sehr schnell ändert, ist nicht mehr christlich, und ich frage mich, wie wir heute Kirche sein können, auf welche Art wir die Leute erreichen können, die den Glauben nicht mehr annehmen und Jesus Christus in einer „post-christlichen“ Welt nicht mehr kennen. In den Ausführungen von Christoph Theobald habe ich einen originellen Gedanken gefunden: Es geht nicht darum, die Leute zu bekehren, sondern in dem Gesprächspartner das Verlangen nach Christus zu wecken und jede Begegnung in diesem Licht zu leben. Christus ist in der Welt bereits gegenwärtig, in der er den Tod besiegt hat. Wir brauchen Ihn nicht in die Welt zu tragen, wir müssen seine Gegenwart offenbaren und im Bewusstsein der Menschen jene Liebe zu Gott wecken, die sich sozusagen in einer Wartestellung befindet.


Sie messen dem Wallfahrtsort Unsere Liebe Frau von Palästina in Deir Rafat in Israel große Bedeutung bei. Was haben Sie vor zu unternehmen, um mehr Menschen dorthin zu ziehen und seine Ausstrahlung zu verstärken?

Unsere Liebe Frau von Palästina, die die Schutzpatroin des Ordens vom Heiligen Grab ist, spielt in der Tat eine wichtige Rolle im Leben der christlichen Gemeinden dieser großflächigen Diözese, in die der Papst mich schickt. Unter allen Wallfahrtsorten im Heiligen Land, die oft an eine Besonderheit des Gebietes gebunden sind, versammelt der Wallfahrtsort Unsere Liebe Frau von Palästina unsere ganze Ortskirche, über die Sensibilität, die Herkunft oder die Sprache der Einzelnen hinaus. Ich möchte die Empfangskapazität dieser Hochburg vergrößern, vor allem damit Jugendliche, Eheleute und Familien dort zusammenkommen und geistlich auftanken können.


Sie hatten 27 Jahre lang die Möglichkeit, die Gegebenheiten im Heiligen Land aus der Nähe kennenzulernen: von der Kustodie, die die Franziskaner leiten, über die Hebräisch sprechende katholische Gemeinde, das Lateinische Patriarchat bis hin zu den anderen christlichen Kirchen und den nichtchristlichen Gemeinden. Was ist Ihrer Meinung nach der Sammelpunkt, der allen Akteuren erlaubt, für das Wohl dieses Landes zusammenzuarbeiten?

Meine Erfahrung bringt mich dazu zu sagen, dass jemand anfangen muss, indem er sich einbringt ohne Angst zu verlieren, und dabei von den gemeinsamen Gegebenheiten ausgeht. Wir können im Dienst an den Armen, in unserem gemeinsamen Menschsein zusammenkommen, und davon ausgehend kann dann eine Beziehung aufgebaut werden, die sich auf andere Horizonte hin öffnet. Man kann den anderen nicht begegnen, wenn man mit dem Dialog über den Glauben oder über die großen Prinzipien anfängt, denn das kann Schranken errichten.


Möchten Sie als Pro-Großprior den Rittern und Damen des Ordens vom Heiligen Grab eine besondere Botschaft zukommen lassen?

Ich habe das Bedürfnis, Sie einzuladen, Ihre Gebete und Ihre Unterstützung für dieses Land fortzusetzen und Wallfahrten dorthin zu unternehmen. Es können außerdem ja nicht alle Menschen hierherkommen, und folglich können Sie das Heilige Land dort bekannt machen, wo Sie sich befinden und auf Ihre Berufung antworten, indem sie auch „Verkünder“ der Schönheit dieser Stätten sind, die nicht nur von dem israelisch-palästinensischen Konflikt bestimmt sind, sondern auch von der großen Begeisterung der reichen und lebendigen Gemeinde, die dort lebt.


Das Gespräch führten François Vayne und Elena Dini


(Oktober 2016)